Treue

In der traditionellen Moral stellt die Treue einen hohen Wert dar. In der Regel wird darunter sexuelle Enthaltsamkeit gegenüber dritten Personen verstanden.

Untreue, d. h. der sogenannte Seitensprung, galt als „Ehebruch“ und war ein schuldhaftes Verhalten, das zur Auflösung des Ehebundes berechtigte. Natürlich nur, wenn frau sich erwischen ließ, für Männer war dies eh nur ein Kavaliersdelikt. Eine Wurzel dieser Doppelmoral könnte in den männlichen Minderwertigkeitsgefühlen liegen, die sich aus dem Aberglauben speisen, dass die Konkurrenten mehr sexuelle Potenz aufweisen könnten, als man selber. In vergangenen Zeiten gab es Keuschheitsgürtel für Frauen, aber keine für Männer! In einigen Ländern dieser Welt werden noch heutzutage Frauen für „Untreue“ gesteinigt. Männer natürlich nicht.


Aber auch heute und hierzulande ist ein sexuelles Erlebnis des/der Partner(s/in) mit Dritten ein alarmierender Einbruch der Unsicherheit und der Angst in den Schutzraum Partnerschaft und wird meist als verletzend, demütigend oder zerstörerisch erfahren.
Was beinhaltet der Wunsch nach Treue in einer Liebesbeziehung? Die darin enthaltene Forderung „Verlass mich nicht!“, ist ein elementarer Wunsch, den Kinder an Eltern richten. Dort – nämlich in die Bindung zwischen Kind und Eltern – gehört die Treue (als selbstverständliches Versprechen „ich halte zu dir!“) tatsächlich hin. Denn diesem Verhältnis liegt eine lebenswichtige Abhängigkeit zugrunde. Hier herrscht eine Asymmetrie in der Beziehung, denn das kleine Kind ist ohne seine Eltern vom Tode bedroht.

Daraus folgt, dass es in Partnerschaften, die ja per Definition symmetrisch sein sollten, also gleichwertige und gleichberechtigte Partner voraussetzen, nur einen Wunsch nach „Treue“ geben darf, aber keine Forderung danach. Der Wunsch „ich möchte, dass du mich nicht verlässt“ ist selbstverständlich legitimer Bestandteil einer Liebesbeziehung. Wenn er aber zur Forderung wird, also Eingang in das Handeln und in die Strategien findet, wird das zerstörerisch. Es wäre der Versuch, Sicherheit auf Kosten der Lebendigkeit zu schaffen und untergräbt leicht die Basis der Beziehung. Eine Partnerschaft kommt zustande, weil zwei Gleichberechtigte sich freiwillig zueinander bekennen. Wenn eine(r) davon behauptet: „Ohne dich kann ich nicht leben. Du darfst mich nicht verlassen“, definiert er/sie damit eine Unreife und eine Abhängigkeitsbeziehung, in der Asymmetrie herrscht.
Der/die Treue Fordernde macht sich kleiner, quasi zum Kind des/der anderen. Dadurch sinkt er/sie bei diese(r/m) in der Achtung und verführt sie/ihn dazu, sich eine andere, von Gleichwertigkeit geprägte Beziehung zu suchen. Die eingeklagte Forderung nach Treue provoziert „untreues“ Verhalten. Wer gebunden werden soll, hat den Wunsch zu gehen! Die Selbstachtung schreibt es so vor. Wer möchte schon in der Papa-/Mama-Rolle zu(m/r) eigenen PartnerIn stehen?
Je heftiger die Treueforderung gestellt wird, je dramatischer die Eifersuchtstragödien inszeniert werden, um so drängender wird der Wunsch des/der Bedrängten nach Wiederherstellung der eigenen Freiheit und Würde. Ein sexuelles Ausbrechen kann so auch gesehen werden, als Versuch, die Gleichwertigkeit zwischen den Partner(n/innen) wieder herzustellen, die durch die Treueforderung verletzt wurde.
In einer Partnerschaft wollen wir uns in eine(r/m) gleichwertigen PartnerIn spiegeln. Jedes Verhalten eines der Beteiligten, welches Asymmetrie der PartnerInnen hervorruft, untergräbt die Beziehung. Sicherlich auch deswegen, weil die einklagende Treueforderung vergessen machen soll, dass das Gegenüber ja eigentlich freiwillig in die Partnerschaft gegangen ist.

Aus freiem Willen haben wir „ja“ gesagt. Mit allen Konsequenzen. Und mit der Freiheit auch wieder „nein“ sagen zu können. Partiell, temporär, absolut. Mit allen Konsequenzen! Weil wir zu allererst nur einem Menschen Treue schulden: uns selber! Wir befinden uns erst mal in der Pflicht, herauszufinden, was unser Herz sagt. Menschen mit Besitzanspruch am Partner, geplagt von Minderwertigkeitsgefühlen, Verlustängsten oder Eifersucht, haben die öffentliche Moral hinter sich und können ihre destruktiven Gefühle hinter gesellschaftlichen Normen verstecken. Das macht diese aber nicht weniger zerstörerisch. Moral ist ein Trick, sich über andere zu erheben, sie zu verurteilen. Aber Überheblichkeit kommt vor dem Absturz! Wie sich Menschen in Liebe zu anderen hingezogen fühlen, wie sie ihre Sexualität leben, entzieht sich jeder moralischen Kategorie. Niemand hat einen Exklusivanspruch auf einen anderen Menschen. Und gleichzeitig gibt es ein Verhalten, das ich von meinen Partner(n/innen) erwarte. Mein Anspruch lautet ungefähr so:


„Was immer du tust, tue es so, dass du mich dabei achtest und würdigst. Rede und handle nicht abfällig oder rücksichtslos. Habe Achtung und Respekt für meinen Lebensweg. Stehe zu unserer Wahrheit und sei da, wenn ich dich brauche. Lass uns die Konsequenzen unserer gemeinsamen Entscheidungen gemeinsam tragen und die Früchte gemeinsam genießen.“ Und das wäre dann auch das, was ich zu geben habe! Aus dieser gegenseitigen Achtung kann etwas Großartiges entstehen. (Jürgen Höhn, https://www.z-bi.de)